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Title
Staatsschutz im Kalten Krieg. Die Bundesanwaltschaft zwischen NS-Vergangenheit, Spiegel-Affäre und RAF


Author(s)
Kießling, Friedrich; Safferling, Christoph
Published
Extent
608 S.
Price
€ 34,00
Reviewed for H-Soz-Kult by
Patrick Wagner, Institut für Geschichte, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

In den ersten zwölf Jahren ihrer Tätigkeit erwirkte die Bundesanwaltschaft über 100 Strafurteile gegen als „Kommunisten“ kategorisierte Menschen. Dem standen fünf Verurteilungen von Rechtsradikalen gegenüber. Die Zahlen zeigen zweierlei: Zum einen lag die Bedeutung der Bundesanwaltschaft in der frühen Bundesrepublik nicht darin, dass sie die Masse politischer Strafverfahren (d.h. Verfahren wegen Landes- oder Hochverrats bzw. dem Vorfeld des letzteren zugerechneten Propaganda-, Kontakt- und Organisationsdelikten) in Gang gebracht hätte – deren Zahl wird auf 150.000 bis 1967 geschätzt. Vielmehr führten die Karlsruher Ankläger am Bundesgerichtshof Musterprozesse, und an den in diesen Verfahren entwickelten Grundsätzen orientierten sich dann die unteren Instanzen. Zum anderen sahen die Bundesanwälte ihre primäre Aufgabe in der Bekämpfung linker Staatsfeinde; Leitstern ihres Handelns war ein kämpferischer Antikommunismus.

Auch wenn drei Viertel der in den 1950er-Jahren bei der Bundesanwaltschaft beschäftigten Juristen vor 1945 der NSDAP angehört hatten und über die Hälfte schon in der Justiz des „Dritten Reiches“ tätig gewesen war, argumentieren Friedrich Kießling und Christoph Safferling in ihrer hier zu besprechenden Studie überzeugend, dass nicht etwa NS-spezifische Prägungen den antikommunistischen Verfolgungseifer der Bundesanwälte speisten. Vielmehr waren (neben der im Kalten Krieg ja durchaus realen Bedrohung) ältere, aus Kaiserreich und Weimarer Republik stammende Erfahrungen und Denktraditionen des strafrechtlichen Staatsschutzes bestimmend.

Im Jahr 2017 hat Generalbundesanwalt Peter Frank den Historiker Kießling und den Strafrechtler Safferling mit einer Erforschung der Frühgeschichte (1950 bis 1974) seiner Behörde beauftragt. Im November 2021 ist diese interdisziplinäre Untersuchung – der man die Mischung rechts- und geschichtswissenschaftlicher Perspektiven, Argumentationsmuster wie Semantiken durchgängig anmerkt – als Buch erschienen und inzwischen bereits in der dritten Auflage erhältlich. Wer die vorherigen Produkte der diversen Behörden-Aufarbeitungsprojekte lesend verfolgt hat, wird in diesem Band kaum Überraschungen erleben; im Geleitzug solcher Projekte tuckert das Werk solide hintendrein. Aber: Wer hat schon Interesse, all diese Bücher zu lesen? Dagegen bietet die Studie allen, die sich speziell für die Entwicklung der bundesdeutschen Justiz interessieren, eine vielfältige und abgewogen argumentierende Problemgeschichte der obersten Staatsanwaltschaft in den 1950er- und 1960er-Jahren. Im Mittelpunkt steht neben dem militanten Antikommunismus der Bundesanwälte deren Leitvorstellung, das vom politischen Strafrecht „zu schützende Gut“ sei einzig das Funktionieren eines „überzeitlich“, d.h. „unabhängig von der jeweiligen politischen Ordnung“ gedachten Staates (S. 281 und S. 499). Bis Anfang der 1960er-Jahre bewegte sich die Bundesanwaltschaft damit im Mainstream – danach führte sie einen immer verbissener wirkenden Abwehrkampf gegen die gesellschaftlichen Liberalisierungsprozesse allgemein und im Besonderen gegen das Umschwenken der Bundesgerichte auf die Position, Kern der zu schützenden Ordnung seien auch die im Grundgesetz garantierten Freiheitsrechte.

Die Autoren gliedern ihre Untersuchung in vier Hauptteile. Der erste (S. 27–100) skizziert die Geschichte der Reichsanwaltschaft, der Vorgängerin der Bundesanwaltschaft, von ihrer Gründung im Jahr 1879 bis 1945 sowie Aspekte der Strafverfolgung von NS-Verbrechen in der Bundesrepublik. Aus letzterer, so stellen Kießling und Safferling lapidar fest, habe sich die Bundesanwaltschaft (abgesehen von Revisionsverfahren vor dem Bundesgerichtshof) aufgrund „verfassungsrechtlicher Bedenken“ des Justizministeriums „immer raushalten können“ (S. 94 und S. 430). Allerdings hat Kerstin Hofmann gezeigt, dass 1958 vor der Gründung der Ludwigsburger Zentralstelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen durchaus erwogen wurde, diese dem Generalbundesanwalt zu unterstellen. Das Bundesjustizministerium hat diese Option bekämpft, so Hofmann, um nicht mit „der in Justiz und Wählerschaft unbeliebten Thematik der NS-Verbrechen“ in Zusammenhang gebracht zu werden.1 Das wäre etwas anderes als „verfassungsrechtliche Bedenken“.

Im zweiten Hauptteil (S. 101–287) rekonstruieren Kießling und Safferling die Organisations- und Personalentwicklung der Bundesanwaltschaft. Analog zu anderen Aufarbeitungsstudien diskutieren sie den Umgang von Behördenleitung und Justizministerium mit der Frage, inwiefern Biographien während des „Dritten Reiches“ als „Belastung“ zu werten seien. Die Befunde ähneln grundsätzlich jenen aus anderen Studien, aber in besonders instruktiver Weise zeigen die Autoren, wie die Karrierestationen von Juristen zwischen 1933 und 1945 durch Entlastungserzählungen über eine auch im „Dritten Reich“ gesetzestreu gebliebene Justiz „normalisiert“, d.h. als Hinweise auf die Fachkompetenz und Berufserfahrung, nicht aber auf eine Mittäterschaft im NS-Herrschaftssystem, gelesen wurden. Als verkürzend erscheint freilich das hieraus abgeleitete Resümee, „im Zentrum der Personalauswahl“ habe „die vermutete fachliche Eignung“ gestanden: „Fragen der politischen Haltung blieben sekundär“ (S. 193). Denn lassen sich die im NS-Staat erworbenen und nun im Staatsschutz der Bundesrepublik nachgefragten „Eignungen“ überhaupt von den politischen Grundhaltungen der Juristen, von ihrem Verhältnis zu Diktatur und Demokratie trennen?

Den argumentativen Kern der Studie bildet der dritte Hauptteil (S. 289–457), in dem die Praxis der Bundesanwaltschaft in Staatsschutz- und Revisionsverfahren rekonstruiert wird. Die breit quellengestützte Untersuchung erhärtet die Leitthese eines kämpferischen Antikommunismus der Bundesanwälte: Während sie in Verfahren gegen des Linksradikalismus verdächtige Verteiler von Flugschriften oder Teilnehmer an Versammlungen und Organisationen kreativ Belastungsindizien konstruierten, ließen die Bundesanwälte in Verfahren gegen Rechtsradikale „die Sache schleifen“ (S. 353), fanden „erstaunlich viele entlastende Momente“ (S. 382) oder vermochten partout keine „strafrechtlich relevanten organisatorischen Strukturen“ zu erkennen (S. 364): „In Verfahren gegen links wären ähnliche Unsicherheiten und Zweifel bei der Beweisführung vermutlich vom eigenen Antikommunismus überdeckt worden.“ (S. 359) Dass die Bundesanwälte gegenüber dem Verfassungsschutz auf eine Gesetzlichkeit aller Maßnahmen pochten, kann man wie Kießling und Safferling als rechtsstaatliches Bewusstsein deuten, vielleicht aber auch als Argument in einem Macht- und Kompetenzkonflikt, bei dem der Rekurs auf die Rechtsbindung die Position der Rechtsexperten, sprich: der Bundesanwälte, stärkte. In der beschriebenen Praxis folgten die Bundesanwälte meist willig den Einschätzungen der Verfassungsschützer. Auch die Fantasie, mit der sich Bundesanwälte um die Ausschaltung unliebsamer Strafverteidiger bemühten, spricht nicht zwingend für ihre rechtsstaatliche Grundorientierung.

Das Jahr 1962 identifizieren Kießling und Safferling als „Schicksalsjahr“ der Bundesanwaltschaft (S. 121). Im Juli wurde der erst seit vier Monaten amtierende Generalbundesanwalt Wolfgang Fränkel zwangspensioniert, nachdem durch eine aus der DDR stammende, inhaltlich solide Dokumentation bekannt geworden war, dass er als Staatsanwalt am Reichsgericht während des Zweiten Weltkrieges Todesurteile gegen mindestens 30 Menschen erwirkt hatte, die zuvor von (ja wahrlich nicht zimperlichen) Sondergerichten milder bestraft worden waren. Fränkel hielt die von ihm erreichten Tötungen auch in den 1960er-Jahren noch für „sittlich gerechtfertigt“, denn im Krieg agiere „das Gemeinwesen“ in „staatlicher Notwehr“ (zit. auf S. 250f.). Er befand sich damit nicht nur im Widerspruch zum Grundgesetz, sondern hatte auch eine neue Grenze des gesellschaftlich Akzeptierten übertreten. Im Oktober 1962 folgte dann die Protestwelle wegen der Durchsuchungs- und Verhaftungsaktionen der Bundesanwaltschaft gegen das Magazin „Der Spiegel“. Nun mussten die Bundesanwälte die neue Erfahrung machen, dass nicht nur die Öffentlichkeit Grundrechte wie die Pressefreiheit höher wertete als obskure Landesverratsvorwürfe. Auch der Bundesgerichtshof vertrat in diesem Fall aus Sicht der Ankläger „geradezu abwegige“ Rechtsauffassungen, die „äußerst gefährlich“ für die „Staatssicherheit insgesamt“ seien (Zitate aus Berichten der Bundesanwaltschaft an das Justizministerium, S. 411). Spätestens mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur „Spiegel“-Affäre vom 5. August 1966, das die zu schützende demokratische Ordnung nicht nur in den Staatsorganen, sondern auch in Grundrechten wie der Pressefreiheit verkörpert sah, geriet die Bundesanwaltschaft „bei der Frage nach dem Schutzgut des politischen Strafrechts […] zunehmend in Widerspruch zur allgemeinen Entwicklung“ (S. 420), hielt aber starr am Widerstand gegen eine vermeintlich „uferlose Anwendung der Grundrechte“ fest (so Bundesanwalt Walter Wagner 1965, zit. auf S. 463).

Die Passagen zur 1972 beginnenden Auseinandersetzung der Bundesanwaltschaft mit dem Linksterrorismus im vierten, sehr viel kürzeren Hauptteil (S. 459–487) fallen gegenüber den vorangegangenen Kapiteln deutlich ab. Sie blenden die zeitgenössischen Kontroversen um den Umgang mit den RAF-Angeklagten sowie den medialen und strafprozessualen Feldzug der Bundesanwaltschaft gegen deren Strafverteidiger aus. Auf dünnes Eis geraten die Autoren im ansonsten prägnanten Schlusskapitel ihrer lesenswerten Studie, wenn sie sich entsprechende Behauptungen des Generalbundesanwalts in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ von 2021 als Befund zu eigen machen: Demnach sei die Bundesanwaltschaft bemüht, „stärker die rechtsextremen Strukturen in den Blick zu nehmen“, statt Einzeltäter-Legenden zu stricken (S. 496). Wer das NSU-Verfahren verfolgt hat, dürfte auf den empirischen Nachweis dieser These gespannt sein. Hoffen wir, dass sie sich eines Tages quellenbasiert prüfen lässt.

Übrigens: Ein Großteil der Akten aus den 1960er- und 1970er-Jahren, die in die Studie eingegangen sind, befindet sich offenbar noch immer bei der Bundesanwaltschaft statt im Bestand B 362 des Bundesarchivs. Dort aber gehören sie hin.

Anmerkung:
1 Kerstin Hofmann, „Ein Versuch nur – immerhin ein Versuch“. Die Zentrale Stelle in Ludwigsburg unter der Leitung von Erwin Schüle und Adalbert Rückerl (1958–1984), Berlin 2018, S. 78.

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